Das Thema Angst beispielsweise ist für jeden Menschen relevant. Jeder Mensch hat Ängste, realistische und unrealistische. Was genau die Krankheitswertigkeit einer Angst ausmacht, ist nirgendwo definiert. Ob eine Angst geringfügig oder schwerwiegend ist, kann letzten Endes nur von dem Betroffenen selbst gespürt werden, wobei darin immer Normvorstellungen darüber eingehen, welcher Umfang von Angst (oder von Depression, Abhängigkeit, Somatisierung usw.) noch normal ist, und ab welcher Intensität von einer krankheitswertigen und damit behandlungsbedürftigen Störung gesprochen werden kann.
Für mich ist auch Borderline eine existenzielle Dynamik, die jeder Mensch kennt, und die bei jedem Menschen in bestimmten Situationen und unter bestimmten Voraussetzungen aktiviert werden kann, ebenso wie jeder Mensch Ängste usw. hat, die ebenfalls in bestimmten Situationen und Konstellationen aktiviert werden können, bis zu einem Grade, wo sie bedrohlich, ja im Extremfall existenzvernichtend werden können.
Borderline ist ein Abgrenzungsproblem. Obwohl der Begriff borderline (von engl. border: Grenze) ursprünglich meinte, dass es sich um eine Störung an der Grenze zwischen einer neurotischen und einer psychotischen Problematik handelt, macht es wesentlich mehr Sinn, davon auszugehen, dass Menschen mit einer aktivierten Borderline-Dynamik erhebliche Schwierigkeiten mit Grenzen haben.
Eine Borderline-Dynamik wird häufig erst dann aktiviert, wenn ein Mensch sich auf zwischenmenschliche Nähe, insbesondere auf eine Liebesbindung einlässt. Dann verwandelt sich eine Person, die vorher liebevoll, zart, zerbrechlich, bedürftig, zuverlässig, reflektiert, solidarisch und stabil wirkte, plötzlich (das kann wirklich sehr schnell gehen) in das genaue Gegenteil. Aus einem süßen Lämmchen wird ein reißender Wolf, aus einem Engel ein Dämon, aus einem warmherzigen, verlässlichen, brüderlichen Freund ein gnadenloser, erbarmungslos zuschlagender Terrorist.
Typisch für die Borderline-Dynamik ist das Hin-und-her-Kippen zwischen diesen beiden Zuständen: Engel und Dämon. Schon ein Tag nach einem über alle Grenzen gehenden Streit ist der zielsicher und erbarmungslos in die wundesten Punkte treffende Dämon verschwunden, und das engelsgleiche, aufmerksame, vor Liebe und Liebesbedürftigkeit überfließende und höchst begehrenswerte Wesen von zuvor ist wieder da, so als ob nichts gewesen sei.
Jedes Gespräch über das am Vortag Gewesene schlägt fehl. Der Borderline-Mensch ist jetzt wieder anders. Es interessiert ihn nicht, wie er gerade noch war. Zwar erinnert er sich, dass er gerade seine Partnerin mit Worten (und nicht selten auch mit Fäusten und Füßen) in Grund und Boden gestampft hat, aber er hat dazu keinen emotionalen Zugang mehr. Jeder Versuch, mit ihm darüber ein klärendes, verarbeitendes Gespräch zu führen führt unweigerlich in eine erneute entgrenzt eskalierende Auseinandersetzung hinein.
Das Kippen zwischen diametral unterschiedlichen und unvereinbaren Teilpersönlichkeiten ist für nahe Angehörige und insbesondere Liebespartner extrem verwirrend. Es ist ihnen unmöglich, eine klare, eindeutige Beziehung zu der Borderline-Person herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten, obwohl gerade das von Borderline-Menschen massiv eingefordert wird: eine stabile, unzerstörbare Bindung, in der sie sich sicher, geborgen und gehalten fühlen können.
Für den Partner eines Borderline-Menschen ist dieses Zerrissensein zwischen Extremen äußerst belastend. Es kann in kurzer Zeit zu einer Zerrüttung der Persönlichkeit des Partners und zu einem Verlust nahezu sämtlicher psychischer Ressourcen führen, was häufig von massiven körperlichen Somatisierungen begleitet ist.
Borderline-Menschen haben allerdings für die Probleme und Schwächen ihres Partners keinerlei Verständnis, ganz besonders dann, wenn deren Leid eine Folge des wild agierenden Verhaltens der Borderline-Person ist. (…) Wenn dieser durch die zermürbenden Konflikte selbst seinen inneren Halt verliert, wird die Borderline-Person panisch und attackiert ihren Partner, um ihn dazu zu zwingen, ihr wieder Halt zu geben.
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