Seelisches...

Liebe und Illusion

„Die Bejahung des eigenen Lebens, des Glückes, des Wachstums und der Freiheit wurzelt in meiner eigenen Liebesfähigkeit: in meiner Fürsorge, meiner Achtung, meinem Verantwortungsgefühl und meiner Erkenntnis. Ein Mensch, der produktiv lieben kann, liebt auch sich selbst. Kann er nur andere lieben, so kann er überhaupt nicht lieben.“

Erich Fromm

„Infantile Liebe folgt dem Prinzip: ‚Ich liebe, weil ich geliebt werde.‘
Reife Liebe folgt dem Prinzip: ‚Ich werde geliebt, weil ich liebe.‘
Unreife Liebe sagt: ‚Ich liebe dich, weil ich dich brauche.‘
Reife Liebe sagt: ‚Ich brauche dich, weil ich dich liebe.'“

Erich Fromm

Die Liebe ist die stärkste Kraft in unserem Leben. Wir alle möchten lieben und geliebt werden. Verspüren eine existentielle Sehnsucht hiernach.
Die Liebe dient dem Leben. Nur durch sie entfalten und entwickeln und verändern wir uns, integrieren neue Erfahrungen und werden mehr als was wir bisher schon sind.
Sie ist es, die uns Grund ist, mutig zu sein, uns zu öffnen, verletzbar zu machen und hinterfragen. Sie ist es auch, die uns hoffen und ahnen, eine Sehnsucht nach Wachstum und Entwicklung verspüren lässt.
Das vermag nur die Liebe. Die Angst vermag das nicht.
Liebe macht groß und integriert Neues. Angst macht klein, eng, verhindert persönliche Entwicklung und Integration.
Oft berühren uns einzelne Eigenschaften oder Fähigkeiten anderer Menschen so tief, dass es uns warm ums Herz wird, unsere Liebe sich regt. Und immer ist dies auch Ausdruck der Liebe zum Leben selbst, die sich als Liebe zu einem anderen, Neugier und Sehnsucht da ins uns regt und zu offenbaren beginnt.
Das deshalb, weil sich in dem, was unsere Liebe im anderen liebt, etwas Besonderes, etwas Großes und Ganzes, etwas Lebendiges offenbart, nach dem auch unsere Seele sich sehnt. Wir lieben im anderen dessen bereits entfaltetes Lebenspotential – als Vorbildung und Abbild der Entfaltung desselben auch in uns.
Liebe bedeutet daher Leben, meint immer Wachstum und Veränderung mit dem Ziel der Entwicklung und Entfaltung des eigenen Potentials.

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Doch ist all das Liebe, was wir täglich beobachten? Was Menschen einander tun? Nein, das ist es nicht. Sehr oft handelt es sich bei dem, was wir für Liebe halten, in Wirklichkeit um „Liebesillusionen“.
Franz Ruppert hat in seinen bemerkenswerten Arbeiten zum Thema herausgearbeitet, dass ein „Trauma der Liebe“, hervorgerufen durch eine Frustrierung des Urbedürfnisses nach Liebe, Geborgenheit, Spiegelung und Sicherheit in unserer Kindheit, eine so lebensbedrohliche Erfahrung darstellt, dass unsere Seele hierauf nur mit einer seelischen Spaltung zu reagieren vermag.
Das Trauma der Liebe ist das Ur-Trauma, das uns Menschen zu verletzen und schädigen vermag. Und eine Art Verletzung, für die fast die gesamte Gesellschaft, in der wir leben, blind ist, sodass das aus ihm resultierende Leiden unbemerkt das Leben vieler Menschen bestimmt und von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Wird ein Kind in seiner bedingungslosen Liebe zu seinen Eltern enttäuscht oder schlimmer noch zu Tode geängstigt, vermag es in seinen Eltern die Liebe und damit den Zugang zu sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen nicht zu finden, hat es nur eine Wahl: Es identifiziert sich mit den nicht anwesenden, nicht liebesfähigen Eltern und nimmt als seine Lebensrealität und -erwartung eben nicht den bedingungslosen Glauben in seine eigen Realität und seine Empfindungen in sich auf, sondern die Traumarealität und Vernachlässigung, die ihm als einziges Modell für „Leben“ verfügbar sind.

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In Folge wird es lernen, die Gefühle seiner Eltern zu fühlen und sich selbst und seine eigenen zu verleugnen, es spaltet sie ab. Nur so kann es im illusionären Kontakt zu den Eltern „Beziehung“ erleben. Würde es sich selbst und seinen eigenen Regungen folgen, drohte Bindungs- und Beziehungsabbruch, drohten ggf. Terror, Not oder sogar der Tod.
Statt der Liebe zu sich, die es von außen erlernen muss, und aus der eines Tages eine Liebe zum Leben zu erwachsen vermag, verinnerlicht es seinen eigenen Missbrauch als Lebenskonzept: Ich bin nichts wert, ich habe es nicht verdient, geliebt zu werden, ich muss hart daran arbeiten, die Liebe von anderen „zu erwerben“ – all so etwas muss das Kind glauben und als vermeintliche Wahrheiten in sich aufnehmen, weil es nur so zu überleben vermag.

Es wird sich später im Leben nicht kennen. Immer seinen eigenen Gefühlen und Regungen misstrauen. Und versuchen, in der Anpassung an andere Liebe und Sicherheit zu finden. Es wird kein Verständnis dafür haben, dass Liebe nicht meint, Anerkennung für Leistung oder Aufopferung zu erhalten, sondern eben, das Leben selbst und also eine andere Person mit all ihren Eigenschaften, Stärken wie Schwächen, zu bejahen, ihr gesamtes Sein. Ohne dass hierfür etwas getan werden muss.

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Die Realität dieser Kinder ist nachhaltig verzerrt. Sie sehen die Welt nicht so, wie sie wirklich ist, sondern immer durch die in die eigene Seele aufgenommen Lügen der frühen Entbehrungen. Oft suchen sie sich misshandelnde oder zu Liebe unfähige Partner.
Sie sind in der Lage, sich einzureden, dass der Partner, der sie schlägt, sie eigentlich liebe; und sie vermögen, einen Eisblock aus ganzem Herzen zu lieben und sich einzureden, wenn sie nur genug an sich arbeiteten und nur mehr und immer mehr liebten, taute er eines Tages auf.
Das ist nicht Liebe. Das sind Liebesillusionen.
Es handelt sich um die ständige Wiederholung der Überlebenszwänge der Kindheit – ohne wirklichen Kontakt zur Realität, wie diese im Hier und Heute vorhanden ist.
Der einzige Weg aus diesen ständigen Reinszenierungen des eigenen Ur-Traumas und also Leidens hinaus, besteht darin, zu erkennen, dass es im Hier und Heute nicht mehr das Leben ist, das einen unterdrückt; und vor allem, dass man der Not und dem Elend, das einem begegnet, im Hier und Heute nicht mehr hilflos ausgesetzt ist.
Wichtige Fragen lauten: Wer bin ich? Und was ist wirklich Liebe für mich?
Seit fast zwei Jahrzehnten bin ich auf der Suche nach den Antworten hierauf.

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Die eigenen Illusionen und Muster zu erkennen, ist aber nur der erste Schritt in Richtung Heilung. Denn in dem Moment, wo man die Muster und Illusionen mutig als solche zu benennen beginnt, kommt all das Verdrängte hoch, all der Schmerz, zu dessen Abwehr die Realitätsverleugnung einst etabliert worden ist.
Die auf diese Art und Weise verletzten Kinder sind tief verletzt, liebesbedürftig und strahlen oft große Liebe und Weisheit aus. Aber selbst wenn sie sich auf den Weg machen, zu heilen, scheitern sie oft an einem finalen Schritt.
Denn der Hass auf die eigene Lebendigkeit und Liebe, der aufgrund der frühen Entbehrungen als Selbsthass in ihre Seele eingebrannt ist, er ist die schlimmste und kaum zu überwindende Hürde auf dem Weg zur Wahrheit, zu wirklicher Liebe und Glück.
Selbst dann, wenn Menschen wie ich ihre eigenen Misshandlungen anerkennen, selbst, wenn sie den Schmerz und die Todesangst wieder ins Leben geholt haben: eines bleibt. Den Hass auf sich selbst, der die Abspaltung absichert, zu überwinden.
Konkret: Nur, wenn ich anerkenne, dass ich als Kind nie geliebt wurde, sondern ständig in Angst und Todesgefahr war, kann hieraus eine Art von Empathie mit sich selbst erwachsen, die anders als die bisherige Verleugnung zu heilen vermag.
Die Lösung lautet: Ja, ich bin zutiefst verletzt; ja, ein Teil von mir ist noch ein kleines und hilfloses Kind. Ein Kind, dass aber dennoch alle Liebe der Welt – vor allem meine eigene – verdient hat, und überhaupt nur nachzureifen vermag, wenn ich Ja sagen kann. Ja zu seiner und also meiner Bedürftigkeit, zu meiner immensen Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit.
Jede Krise wird uns wieder dazu bringen, auf alten Gleisen zu fahren. Wenn man einen Menschen wirklich von Herzen liebt, die Beziehung aber in eine existentielle Krise geraten ist, haben traumatisierte Menschen in Summe zwei Optionen.

1.

Da ihre Liebesfähigkeit und ihr Mut zu lieben traumatisiert und also zu Tode geängstigt sind, sie sich diese eigene Not und vor allem Bedürftigkeit aber nicht eingestehen können, da sie sonst auf einer Ebene verletzbar würden, die für sie Todesangst meint, reagieren sie mit kindlicher Bockigkeit, Stolz, dem erlernten Selbsthass und neuerlicher Abspaltung von sich selbst. Erneut trennen sie sich seelisch von ihrem inneren, traumatisierten Kind, das sich nach Liebe sehnt, aber Todesangst hat. Todesangst vor Nähe, in der sie mehr als ihre Rolle sind, die ihnen Sicherheit gibt und dennoch das Leben zerstört. Sie spalten dessen narzisstische Bedürfnisse, die allein zu Nachreifung und dem Anwachsen der eigenen Liebesfähigkeit führen könnten, ab. „Ich habe Dich nie geliebt“, „Ich fand Dich noch nie attraktiv“, „Eigentlich war das von Anfang an nichts“ sind dann die Sätze, die der in ihrer Seele noch aktive Selbsthass sie dem Partner zu sagen aufzwingt. Der Selbsthass, der den alten Missbrauch repräsentiert, und nun zu neuem Missbrauch wird. Denn erneut verraten sie, um sich zu schützen, ihre wahren Bedürfnisse und Potentiale, und setzen den Täter in sich gegen das Opfer ins Recht.
Tatsächlich aber war ihre Liebe real. So real sogar, dass ihr traumatisierter Anteil sich aus der Deckung und also „ins Leben“ gewagt hat. Und da er zutiefst verängstigt und verletzt und seine Realität nach wie vor verbogen und verzerrt ist, sabotiert dieser traumatisierte Anteil mit der Zeit die Beziehung; denn das, diese „destruktive Art“ von Liebe, die ihren Ursprung in Ohnmacht und Liebesillusionen hat, ist die einzige Art Liebe, die er bisher zu lernen vermocht hat.
Er will dann den Partner bspw. beherrschen, wird manipulativ; oder er vermeidet Selbstbehauptung und Auseinandersetzung aus Angst vor Verlassenwerden und Liebesentzug. Aber gerade die Tatsache, dass eine Beziehung, diese Muster reaktiviert, bedeutet, dass das hilflose Kind sich ins Leben getraut hat. Wer es liebt, wirklich zu lieben begonnen hat, der sucht sich Beziehungen, die so tief und authentisch sind, dass dies überhaupt möglich erscheint. In Anerkennung seiner Sehnsucht nach Spiegelung, Zärtlichkeit, Geborgenheit und Entwicklung lässt er sich auf keinen Eisblock, Täter oder empathiefreien Menschen mehr ein, sondern bindet sich an Partner, die liebesfähig sind. Und er verrät seine eigene Hilflosigkeit auch nicht in der Krise und wenn also sein traumatisierter Anteil, um nachreifen zu können, furchtbare Fehler begangen und die Beziehung fast ruiniert hat.

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2.

Das aber ist womöglich der schwerste Schritt „ins Leben zurück“: In der Not, von Zweifeln, Selbsthass und Stolz zerfressen, den Schutzschildern wider die eigene Verletztheit, Bedürftigkeit, Sanftheit und Sehnsucht im Herz ausgeliefert, immer die Stimme im Kopf „Ich schaffe das allein, ich brauche niemanden; ich bin nicht bedürftig, ich gehe jetzt!“ – in diesem Moment nicht auf das Alte, die Illusionen, das Muster und also Trauma zu hören, sondern Verantwortung zu übernehmen auch und vor allem für das Verdrängte, Verleugnete, Abgespaltene und also Ja zu sagen zur eigenen Todesangst.

Und dann zum Partner zu gehen und gegen die alten Programme die wirkliche Wahrheit hinter der Scheinrealität zu verantworten und sagen: „Ich bin so unglaublich tief verletzt und in meiner Liebe und Liebesfähigkeit erschüttert und traumatisiert. Der eine Teil in mir, der traumatisierte Teil, will sich unterwerfen, er will, dass ich mich aufgebe, um Dich zu binden und auf diese Art die Krise vermeintlich zu meistern. Der andere, der Überlebensanteil, ist stolz und rät, einfach zu gehen – da ist nichts, was es verdient, zu warten und in diesem Warten zu leiden für nichts und wieder nichts. Er sagt: ‚Es funktioniert doch sowieso alles nicht, geh einfach, geh, Du brauchst niemanden, geh!‘ Aber die Wahrheit ist eine ganz andere: Ich will weder meine Liebe verleugnen noch mich selbst. Ich will mich nicht unterwerfen, sondern Dir auf Augenhöhe begegnen und wachsen mit Dir. Und ich will nicht aus Angst vor Verletzung das verraten, was ist, und bockig einfach gehen. Ich bin so tief verletzt und habe nun zum ersten Mal Kontakt zu meiner eigenen Hilflosigkeit und Bedürftigkeit – und ich habe ganz real, hier und jetzt, Todesangst, das zu offenbaren und mich zu öffnen für Dich. Aber ich möchte es doch versuchen – versuchen, ob Liebe möglich ist, obwohl ich bin, wie ich bin. Meiner Liebe und dem Leben willen. Weil wir nur so beieinanderbleiben und uns gemeinsam weiter entwickeln können. Wenn ich nicht mehr weglaufe vor mir – meiner Liebe und Sehnsucht nach Dir, dem Leben und dahinter: mir.“

Es waren reale Schmerzen, die ich beim Sprechen erlebte. Reale Todesangst. Die Spaltung war für einen Moment überwunden. Alles war auf einmal da und daher zum ersten Mal wirklich real. Kraft, Mut und Angst. Liebe und tiefste Angst davor, wirklich zu lieben – mit Haut und Haaren, ohne Schutzschild, sondern ganz.
Und – wider alle Erwartungen – brachte mich der andere nicht um, wie mir das das alte Muster suggeriert hatte: „Wenn Du Dich wirklich mit allem öffnest, was Du bist, wirst Du sterben; niemand liebt Dich, wie Du bist, niemals!“. Im Gegenteil: Durch den Schleier meiner Angst und Tränen blickte ich in zutiefst gerührte und bewegte Augen, die ebenfalls Tränen vergossen. Und erlebt zum ersten Mal in meinem Leben, was wirklich Liebe ist; dass ich ich sein kann ohne zu sterben. Mit 39 Jahren war ich zum ersten Mal „ganz“, wirklich ich.

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Die Beziehung ging dennoch zu Ende. Und es sind nun schon viele Wochen, in denen ich von Schmerzen, Ängsten, Schuldgefühlen, Selbsthass und anderem heimgesucht werde. Ich spaziere, vollständig erschöpft, durch die Stadt. Und auf einmal fließen die Tränen und versiegen für Stunden nicht mehr. Ich liege nachmittags im Bett und beobachte die Welt und plötzlich habe ich starke Schmerzen, die kommen, bleiben und nach einiger Zeit wieder gehen.

Wo nimmt man die Kraft her, aus Liebe zum Leben und also Wachsen und Werden, Ja zu sagen auch zu diesem Leiden, Sterben und Tod? Ich habe sie aus der Liebe zu einem anderen Menschen geschöpft, die mir – nach so vielen Jahren – den Weg aufzeigte, mich selbst wirklich einzulassen, erleben, kennenzulernen und nachzureifen. Meinem traumatisierten inneren Kind seine Bedürfnisse eben nicht mehr wut- und hassentbrannt aus der Hand zu schlagen und meine Seele damit wieder in das Gefängnis der inneren Einsamkeit, Verzweiflung und Depression zu sperren.
Mein Wille und meine Fähigkeit, die tiefe Schönheit einer anderen Seele zu sehen, hat mir den Mut geschenkt, nicht nur zu geben, sondern auch zu nehmen; und nicht nur zu nehmen, sondern auch zu wachsen durch dieses Geschenk, das zu geben so viele zuvor gar nicht in der Lage gewesen sind.
In meiner Liebe und meinem Vertrauen für sie habe ich mich selbst zu lieben und mir zu vertrauen gelernt.

Nun ist die Beziehung vorbei. Und ich leide. Aber nun kann ich hoffen und glauben: dass, was in den wenigen wirklich tiefen und wahrhaftigen Büchern steht, wahr ist: dass nur das Ja zu diesem Tod, den ich nun sterbe, die Transformation und Nachgeburt erlaubt und daher ein Ja zum Leben, zum Wachsen meiner Erkenntnis, Weisheit, Lebendigkeit und Liebesfähigkeit meint. Den Mut aufbringen, zu sagen: das ist „Wachstumsschmerz“ – endlich kommt alles bisher Ungefühlte zu Bewusstsein und damit ins Leben und die Verantwortung zurück.

Andere leben um zu sterben. Ich sterbe um zu leben. Eines Tages schreibe ich hierzu ein Gedicht.

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Weiterlesen:

Franz Ruppert: „Das Trauma der Liebe
Andrew Vachs: „Du trägst das Heilmittel in Deinem eigenen Herzen

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