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Nach-Weihnachtsmärchen


4. Januar 2016:

Im ICE von Berlin nach Mainz. Rückreise vom Weihnachtsurlaub. In Halle steigt ein gebrochen Deutsch sprechender junger Mann ein. Ziemlich am Ende. Ohne Fahrkarte. Muss wichtige Papiere in Frankfurt holen. Schnell entbrennt eine hitzige Debatte. Zuerst mit der DB-Kontrolleurin: „Wenn Sie kein Geld haben, müssen Sie raus! Das ist doch eine Frechheit. Oder denken Sie, wir kommen in ihr Land und steigen da einfach in den Zug und fahren mit?“ Danach die ältere Dame neben mir: „Ja, ja, das ist wirklich schlimm!“ „Was meinen Sie?“ „Na, dass die jetzt überall sind und sich nicht an die Regeln halten. Schlimm!“ Ich: „Ach, wissen Sie, wenn fremde Mächte mein Land seit Jahren bombardieren würde, würde ich auch abhauen. Und wenns ums Leben und Überleben ginge, würde ich auch einen scheiß auf Regeln geben, sondern einfach den Zug nehmen, der mich weiterbringt.“ Dann bin ich hin und habe ihm gesagt, dass er wegen Betrug oder Eigentumsdelikten in Germanien schnell in den Knast wandern kann und sich das nächste Mal lieber auf dem Klo verstecken soll. Und dann habe ich hörbar im Abteil gegen das allgemeine Gejammere gesagt, dass Jammern nichts helfe und Mitgefühl besser durch Handeln denn durch Larmoyanz zu leben sei. Und dann habe ich ihm „zu Weihnachten“ ein Ticket gekauft. Und, siehe da: Jeder hängt in seinen Regeln, in seinem ganz eigenen Film. Aber wenn einer anfängt, bewegen sich auch die anderen. Vormachen! Mut machen! Das ist so wichtig in dieser Zeit. Jedenfalls: Die DB-Frau hat mir dann statt 100 nur 50 Euro abgenommen. „Sie haben doch eine Bahncard, oder?“ „Ja.“ „Gut, dann machen wir das über die. Aber verraten Sie uns nicht!“ Wunderbar! Manchmal muss der „Mut zur Empathie“ erst ermutigt und herausgekitzelt werden aus der deutschen Untertanenmentalität. Aber in der Subversion fühlen sich in aller Regel doch viel mehr Leute wohl als man annehmen mag. Dabei gehören wir alle genau dort gerade hin: In die solidarische Subversion gegen dieses System, das täglich mordet und über Leichen geht. Prost Neujahr euch! Die Großmutter neben mir hat mir grad ein Hustenbonbon geschenkt. Das ist vielleicht der „Extremismus“ im Denken und Handeln, zu dem eben sie fähig ist: Dem Dissidenten, der den Störern hilft, Naschi geben. Ist doch schon was! Anfangen, vorleben, auch ihr. In der Praxis und nicht in linker Theorie. Klingt wenig, ist aber sehr viel… – Nachtrag 10 Minuten später: Jetzt hat mit der Familienvater neben mir grad 25 Euro in die Hand gedrückt. „Entschuldige, ich würde mich gern an der Fahrkarte beteiligen. Bei minus 15 Grad draußen. Hast Du gut gemacht!“ „Ach, Du bist ja süß. Vielen Dank, sehr gern.“

5. Januar 2016:

Nachtrag zu gestern und offtopic diesmal: Da habe ich mit meiner kleinen Erzählung ja gut was losgetreten. Reichweite von 30.000 Klicks auf den Bericht. Was ich mich frage: Mensch, wie hältst Dus mit der emotionalen Betroffenheit? Wie entscheidest Du eigentlich, was wann jeweils richtig ist – und was falsch? Konkret: Ich habe nirgends geschrieben, dass die Person, der geholfen wurde, ein Flüchtling war. Das war zwar naheliegend, aber alles andere als klar. Es kann genauso gut auch ein drogenschmuggelnder Amer respektive Obdachloser gewesen sein. Ganz real, ohne Spaß. Ich habe nicht gefragt. Es war mir egal. Wäre es „in diesem Falle“ dann falsch gewesen, zu helfen? Wären 30.000 Klicker dann auch so gerührt? Das „Mem“ Flüchtlinge scheint ja grad ungeahnte Solidarität auszulösen. Bei einigen jedenfalls. Aber tuen dies die Meme „arm“, „hungernd“, „asozial“, „drogensüchtig“ auch? Und warum eigentlich nicht? Eine schöne Wöche euch allen.

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En garde!


Der Clown wurde verhaftet und in Handschellen abgeführt. Wahrscheinlich würde er in der Psychiatrie landen.
Es kam in letzter Zeit häufiger vor, dass Künstler verschiedener Sparten für öffentliches Aufsehen sorgten, da sie sich auf vollkommen unangemessene und offenbar psychotische Art und Weise in konkrete gesellschaftliche Problemlagen einmischten.
Dieser Clown hier war verhaftet worden, weil er versucht hatte, eine Gruppe Jugendlicher aufzuhalten, die in der Berliner U-Bahn ein Großmütterchen, das sie wegen deren Kopftuch irrtümlicherweise für eine Muslima hielten, fast totschlugen. Mit gezücktem Bleistift und Blume im Knopfloch war er ihnen entgegengetreten und hatte „En garde!“ gerufen.
Selbstredend war es nicht okay, wenn Jugendliche, was leider immer häufiger vorkam, Andersgläubige verprügelten. Und noch weniger okay war es, wenn sie dies mit Ähnlichgäubigen taten. Ganz und gar unokay war es jedoch, seine psychotischen Schübe ausgerechnet in derlei ernsten Momenten ausleben zu müssen.
Das Großmütterchen lag inzwischen wohl auf der Intensivstation. Die Jugendlichen waren auf der Flucht. Der Clown kam in Haft. Und die Passanten, die alles aufmerksam beobachtet hatten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, fühlten sich endlich wieder sicher. „So viel Unmenschlichkeit heutzutage auf dieser Welt“, sagte einer. „Die Menschen werden ja auch immer verrückter.“ Und meinte damit den Clown.

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Fragmente


oder: Was ist Leben?

Ich war am Grab meines Vaters. Habe Abschied genommen. Habe endlich Abschied genommen. Über zwanzig Jahre hat es gedauert, dass es endlich ging. Und nun war es an der Zeit. An der Zeit, sich von mehr oder minder dem einzigen Menschen zu verabschieden, der mir in jungen Jahren Halt und Licht gewesen ist. Und der dann plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Einfach so. Und über Nacht. Der mich, ohne es zu wollen, haltlos und im Dunkeln zurückließ. Viel zu jung. Und viel zu früh. Nun habe ich ihm auf Wiedersehen gesagt. Und auch, wie sehr ich ihn liebte. Ich habe lange Zeit gar nichts mehr gefühlt. Viel zu groß war der Schock. Und ich habe es mir lange nicht verziehen, dass ich dies nicht schon zu Lebzeiten tat: Ihm sagen, wie viel er mir bedeutete und stets bedeutet hat. Das habe ich nun nachgeholt. Und ich habe ihm versprochen, dass ich diesen „Fehler“ nie wieder begehen werde. Fortan will ich sagen, was immer auch zu sagen ist. Weil Leben nur Hier und Heute stattfindet und es ein Morgen eben vielleicht gar nicht mehr gibt. Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern. Doch wir können lernen aus ihr. Wir können kein anderer sein. Doch täglich aufs Neue wirklich der, der wir sind. Wir können nichts Äußeres wirklich halten und lange bewahren. Aber wir können das, was uns Licht am anderen war, zu einem Teil unseres eigenen Lichtes machen und so das Vergangene lebendig halten: als liebevolle Erinnerung und lebendigen Teil von uns selbst.

Ich schließe mit meiner Mutter Frieden. Ein Großteil der Kindheit bestand aus Hass und Angst. Und dennoch schließe ich mit meiner Mutter gerade Frieden und komme zur Ruhe. Das ich dies täglich ein weiteres Stück mehr vermag, dafür gibt es vor allem drei Gründe. Der erste Grund ist jener, dass ich im Keller meiner Seele meine eigene Angst und Not und Ohnmacht und Endlichkeit entdeckt habe. Seitdem weiß und verstehe ich, wie es ist, wider jedes bessere Wissen hilf- und wehrlos zu sein. Einfach nicht aus seiner Haut zu können. Und ich ahne, wie es ist, lieben zu wollen, aber nichts geben zu können, das man selbst nie erfahren hat. Der zweite Grund ist jener, dass mir ein Mensch begegnet ist, der einfach nur das Gegenteil der Mutter meiner Kindheit ist: Eine Frau, die einfach nur ein Haufen Liebe, Wertschätzung und Zärtlichkeit auf zwei Beinen ist. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass es solche Menschen überhaupt gibt. Menschen, die andere bedingungslos so annehmen, wie diese sind. Menschen, die in der Lage sind, wirklich zu lieben. Menschen, die andere stets ermutigen statt zu bestrafen oder ihnen zu drohen. Und der dritte Grund ist jener, dass ich einen Menschen, den ich einst liebte, gerade dabei begleite, Elter zu werden. Und dass ich dabei erfahre, dass diese Person alles für ihr Kind tun würde. Vielleicht sogar den rechten Arm hergeben. Das, was wirklich notwendig ist, um dem Kind wirklich Halt und Geborgenheit zu geben, aber gar nicht zu tun vermag. Denn, ich sagte es bereits: Wer kann schon aus seiner Haut? Wer soll, wenn er noch mit seinen Dämonen kämpft, sehen können, dass es seine eigenen Kämpfe sind, die die Ruhe nicht erst aufkommen lassen und den Frieden und somit die Liebe vertreiben? Wer, der sein Leben lang nur geliebt wurde, wenn er „leistete“, könnte, egal, aus welchem Grunde, von einem Tag auf den anderen einfach ein anderer oder eine andere sein – nur „aus Liebe zum eigenen Kind“? Niemand vermag dies, denn wir alle sehen sooft und oft auch viel zu lange im Leben, doch den Wald vor lauter Bäumen nicht. Übersehen uns selbst und leiden dann an der Welt, die uns vermeintlich übersieht. Ja, der dritte Grund, warum ich mit meiner Mutter allmählich meinen Frieden finde, ist jener, dass ich eine gute, eine kluge, eine besondere Frau gerade dabei beobachten darf, wie sie ihrem Kind alles gibt, was sie hat. Wie dies aber nicht ausreicht und ausreichen kann und ausreichen wird, weil es schlichtweg zu wenig für eine zarte Seele ist. Und wie all das dennoch Liebe und das im Moment „Bestmögliche“ ist. Weil mehr zu geben ihr im Moment schlicht unmöglich ist. Und weil sie selbst nie genug erhalten hat. Ja, diese Frau, die mir so große Angst bereitet hat in meinem jungen Jahren: Auch sie hat mich geliebt. Sie war nur niemals Herrin im eigenen Haus. War niemals an dem Ort, an dem man der eigenen Angst und Not und Ohnmacht und Endlichkeit ins Antlitz blickt und hinter diesen schließlich sich selbst zu erkennen und hiernach zu heilen vermag. Und hat daher aus einem fast leeren Silo das wenige ausgeteilt, was einzig es an Liebe für sie und ihre Kinder dort gab.

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Regen


Jeder Augenblick ist ewig,
wenn du ihn zu nehmen weißt.
Ist ein Vers, der unaufhörlich
Leben, Welt und Dasein preist.

Alles wendet sich und endet
und verliert sich in der Zeit.
Nur der Augenblick ist immer.
Gib dich hin und sei bereit!

Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden.
Gönn ihm keinen Blick zurück.
In der Zeit muss alles sterben
aber nichts im Augenblick.

(Konstantin Wecker)

Als ich mit der S8 die Brücke nach Mainz überquere, beginnt es gerade zu regnen. Nein, zu gewittern. Es beginnt zu gewittern. Der Himmel öffnet sich und nach Wochen der Hitze fällt neues Leben auf die verbrannte Erde und ausgezehrten Körper und Seelen herab.

Ich überquere den Fußgängerüberweg an der Ampel in Richtung meines Hauses. Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beginnt eine Frau in strömendem Regen einen Sprint auf ihre Seite des Überweges zu. Aber just als ich die Fahrbahn überquert habe, schaltet die Ampel auf Rot. Ich bin hinüber. Sie ist es nicht. Ich habe einen Schirm und schreite voran. Sie steht, ohne Schirm, nun im strömenden Regen am Übergang und wird zunehmend nass.

Nach einigen Metern drehe ich mich um, überlege kurz und kehre dann zu ihr zurück. Ich stelle mich neben sie an die Ampel und halte meinen Schirm schützend auch über sie. „Ach, danke, das ist aber nett“, sagt sie. Und ich erwidere nach einem Moment des Schweigens: „Also, wenn es ihnen nichts ausmacht: Der Schirm ist kaputt und ich muss mir eh einen neuen kaufen. Darf ich ihn ihnen wohl überlassen?“ „Gerne, ja“, antwortet sie.

Und so drücke ich ihr meinen Schirm in die Hand, nicke und gehe weiter meines Weges. Vor der Haustür bleibe ich, den Schlüssel bereits in der Hand, kurz stehen, doch ziehe dann weiter. Und laufe schnurstracks in das sich über die Stadt ergießende Gewitter hinein.

Links und rechts hastet und rennt es. Bloß nicht nass werden!, denken die meisten wohl. Nach ein paar Minuten sind die Straßen fast menschenleer. Nur noch einige Versprengte und Hartgesottene teilen sich die Stadt noch mit mir. Ich trage T-Shirt und kurze Hose. Die Sandalen habe ich in der Hand. Ich tanze ein wenig und pfeife ein Lied, das ich gerade erst am Erfinden bin.

Ein Unbekannter mit Schirm streift meinen Weg. Er hört mich pfeifen und muss lächeln. Einige Zeit später zieht ein Pärchen an mir vorbei. Erst schauen sie auf meine nackten Füße, dann mir ins Gesicht, erneut auf meine nackten Füße. Und dann lächeln sie beide, lächeln mich an.

Das Kopfsteinpflaster in der Altstadt ist feucht und warm. Der Regen benetzt meinen Körper und umspült mir liebevoll die Zehen. Und, Pfützen, ja, die sind mir ein besonderer Genuss. Groß, weich und warm sind sie. Und als ich das fühle, lächele ich schließlich selbst.

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Geschichten..., Journalistisches...

Blockupy


1.

Ich trage ein Schild um den Hals, auf dem ich für 500 Euro Eckregelsatz werbe. Ich laufe durch den immer größer werdenden bunten Haufen junger Menschen, die sich zur Demonstration versammelt haben. Die Sonne scheint. Die Stimmung ist gut. Ich habe ausgesprochen gute Laune. Ich passiere zwei junge Frauen. Die eine hat sich gerade Kaffee oder ähnliches über die Hose gekippt und sagt gerade zur anderen: „Mist, jetzt sehe ich doch aus wie ein Schwein.“ Dabei lächelt sie. Ihr Lächeln berührt mich. Ich bleibe stehen und schaue mir erst die Flecken auf ihrer Hose, dann sie und schließlich das Lächeln in ihrem Gesichte an. Dann sekundiere ich: „Aber ein hübsches Schwein.“ Und lächele selbst. Sie daraufhin, strahlend wie ein junger Sommertag, nur ein wenig schüchterner: „Danke schön“. Dann strahle auch ich. Und gehe weiter meiner Wege. Schön, wie einfach das Leben manchmal doch ist. Und wie schön.

2.

Öffentliche Sitzung des Innenausschusses des Hessischen Landtages. Der Innenminister verbreitet Dinge, die ich nicht als Wahrheiten zu bezeichnen vermag. Danach spricht der Einsatzleiter der Polizei. Er beamt Fotos an die Wand: Viele junge Menschen mit Regenschirmen, einige mit Sonnenbrillen, andere hochgezogenen Kapuzen von Kapuzenpullovern. Bei allen sieht man die Gesichter. Das Foto ist jedoch so dunkel gedimmt, dass man kaum irgendetwas wirklich erkennt. Der Einsatzleiter beschreibt dazu, ich zitiere sinngemäß: „Und hunderte solcher vermummter Radikaler waren in Frankfurt vor Ort!“ Ich murmele in meinen Bart, dass ich keinen Vermummten sehen könne und was an der Ausübung demokratischer Rechte denn linksradikal wäre. Aber ich darf nichts sagen. Nicht laut. Denn die Demokratie im Hessischen Landtag beschränkt sich auf das Rederecht für Repräsentanten und von diesen namentlich Herbeizitierte – sowie die Schweigepflicht für alle anderen. Dann ein Foto, um die Gewalt zu verdeutlichen, die von den Demonstrierenden für die öffentliche Ordnung ausging: Vielleicht zwanzig Polizisten mit Helmen, in schwarzer Monstranz, Knieschützern, Ärmelschützern, Knüppel- und Prügelmontur. Einer von ihnen hat eine weiß eingefärbte Hose weil er einen Luftballon voller weißer Farbe abbekommen hat. Da platzt mir der Kragen. „Da, da sind sie, die Vermummten“, rufe ich in den Raum – und die Hälfte der Anwesenden lacht mit mir mit. Immerhin. Wenigstens das also: Widerständig lachen kann man auch mit den Großkopferten. Zumindest mit einigen hiervon. Trotzdem lache ich lieber mit den Schweinen. Besonders den hübschen. Bin halt auch nur ein Mensch.

Mehr Infos (auch zur Solidemo am Samstag, den 8. Juni 2013) hier und hier. Und ein guter Artikel der FR zum Thema hier. Zitat: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, heißt es in einem Aufruf zur Demo am Samstag. DGB, SPD, Grüne und Linke solidarisieren sich.“

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Mitunter sogar Lachen


Unsere studentische Hilfskraft, Kunstpädagogin und Künstlerin sowie ein Herz von einem Mensch, berichtet mir von ihrem Praktikum in einer psychiatrischen Einrichtung, in der sie eine Zeitlang Menschen mit seelischen Problemen, die zudem oft auch körperlich gehandicapt waren, begleitete und betreute. In einer Einrichtung, in der die Patienten die Gelegenheit erhielten, in dutzende Berufe hineinzuschnuppern und für die Zeit ihres Aufenthaltes den Beruf ihrer Wahl auszuüben – ihren ‚Traumberuf‘.

Ein Patient, so berichtet sie, war aber für nichts zu begeistern. Er wollte nicht Bauer sein, nicht Bäcker, nicht Maler, nicht Künstler und nicht Schriftsteller. Auf die Frage, was er denn dann sein wolle, antwortet er, er wolle Hühnerhalter sein. Gesagt, getan. So stellt sie bei der Einrichtungsleitung einen Antrag – und 14 Tage später hat das Haus einen Anbau im Außenbereich: ein Hühnerhaus mit Platz für 15 Hühner darin. Am Morgen, an dem dann auch die Hühner geliefert werden, stürmt der angehende Hühnerhalter in ihr Zimmer, greift ihre Hand und eilt mit ihr durch die gesamte Einrichtung gen Hühnerstall. „Die Hühner sind da!“, ruft er dabei ein ums andere Mal. „Die Hühner sind da!“ Vor der Tür des Hühnerstalls bleibt er dann jedoch schlagartig stehen und dreht sich zu ihr herum. „Sage einmal“, beginnt er zu fragen, „ob sie wohl beleidigt sind, wenn ich sie mit ‚Guten Morgen, meine Damen, und nun hinaus aus den Federn!‘ begrüße?“ „Nein, das kannst Du schon machen“, erwidert sie. Daraufhin öffnet er die Tür des Stalles, streckt seine Brust nach vorn, breitet die Arme weit aus, lächelt und ruft: „Guten Morgen, meine Damen. Herzlich willkommen und nun hinaus aus den Federn!“

Ein andermal seien sie mit einem Großteil der Patienten durch die Weinberge gewandert. Hundert, zweihundert vielleicht, sehr viele jedenfalls. Viele davon im Rollstühlen. Und in diesen dann über die Weinberge. Alles andere als eine gute Idee. Die Gruppe schrumpfte daher auch immer mehr. Alle paar Kilometer musste der Fahrdienst angerufen und darüber informiert werden, wo gerade wieder zwei ‚Zweiradfahrer‘ abzuholen seien. Dann aber – endlich das Ziel. Eine Kirche. Und gleich ist Gottesdienst. Links Reihen. Rechts Reihen. Dazwischen ein Gang. In den linken Reihen beziehen die braven Bürger der Gemeinde ihren Platz. Und rechts ‚die Verrückten‘, wie man sich untereinander liebevoll nennt. Irgendwann geht dann der Klingelbeutel herum. Auf der linken Seite wird er gefüllt: Fast jeder und jede wirft das ein oder andere hinein. Dann erreicht der Beutel die rechte Seite. Und wird hier: …entleert. Fast jeder und jede greift hinein, nimmt etwas heraus, freut sich wie ein Kind – und reicht den Beutel weiter, an Nebenmann oder -frau.

Einmal, so berichtet sie, habe eine Patientin, mit der sie gerade durch die Stadt spazierte, unbedingt etwas Verrücktes, etwas Tolles, etwas nur zum Spaß-und-Freude-Haben unternehmen wollen. „Ich will jetzt Graffiti machen!“, ruft die Patientin ihr, nach einer kurzen Bedenkzeit, schließlich festentschlossen zu. „Aber ich habe kein Geld. Mist, ich muss Spraydosen kaufen – aber ich habe kein Geld! Ich brauche jetzt sofort Geld! Ich will Graffiti machen…“ Und schon ist sie in einer Bankfiliale, die auf dem Wege lag, verschwunden. In dieser hebt sie die Hände über den Kopf, faltet sie wie zum Gebet, streckt Daumen und Zeigefinger dann vom Faustkonglomerat aus fort und ruft: „Hey, das ist ein Überfall, ich brauche jetzt sofort 20 Euro, dann wird auch niemandem etwas geschehen… Ich will Graffiti machen.“

Ach, ich mag Verrückte. Ich glaube, sie sind die einzigen normalen Menschen auf dieser Welt. Und Künstler mag ich auch. Ich kenne keinen, der nicht zumindest ein wenig verrückt-liebenswert wär.

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Triptychon in Prosa


Eigentum

Ich weiß, daß mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus läßt genießen.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Eins

Meine S-Bahn hat Verspätung. Also nehme ich den Regionalzug. Von Frankfurt nach Mainz. Die tägliche Pendelei. Selten habe ich einen so vollen Zug erlebt. Zwar ergattere ich noch einen Platz, doch der gesamte Gang ist mit Menschen verstellt. Nachdem wir angefahren sind, fallen mir zwei Dinge auf. Zum einen, dass offenbar jeder und jede um mich herum sehr beschäftigt ist. Da wird auf dem Computer oder Smartphone getippt, hektisch geblättert oder gelesen, einer schaut sogar einen Film auf seinem tragbaren PC. Den hat er auf den Knien. Ich nehme all das wahr, fühle mich hinein und schreibe im Kopf ein Gedicht, das ich später „Die Freiheit, die sie meinen“ nennen werde. Das zweite, was mir auffällt, ist eine junge Frau. Sie steht recht nah bei mir, im Gang. Sie liest nicht, blättert nicht, computert und smartphonet nicht. Aber sie will sitzen, schaut sich immer wieder nach einer entsprechenden Gelegenheit um. Ich weiß nicht, warum, aber sie berührt mein Herz. Ich mag ihr Lächeln und die Art, wie sie sich kleidet. Und auch noch mehr. Doch das ist Intuition und erschließt sich auch meiner Feinfühligkeit nicht. Ich bin ganz hin- und hergerissen. Was kann, soll, darf ich tun? Ansprechen! Aber wie…? Ich traue mich nicht. Und in einem Zug voller Grauer Herren und Damen wird es noch schwerer fallen, mutig zu sein. Plötzlich lache ich laut in mich hinein. Das passiert mir gelegentlich. Meist in den Momenten, wo meine Frechheit mit meiner Angst ringt und dieser zum ersten Mal einen ordentlichen Kinnhaken verpasst. Ich überlege mir, was wohl geschähe, wenn ich es hinbekäme, sie anzulächeln und ihr zu sagen: „Tausche Sitzplatz gegen Telefonnummer, wie wär’s?“ Der Gedanke versorgt mich zwar mit einer Überdosis Adrenalin, die Angst hat jedoch für die Frechheit einen Leberhaken parat – und darum sitze ich nur lächelnd in meiner Wagenecke und ringe innerlich mit mir. Nachdem mir klar wird, dass dieses Ringen wohl auch auf Dauer nur einen Patt ergeben wird, entscheide ich mich, wenigstens irgendetwas zu tun, und stehe nach ca. 15 Fahrtminuten auf. Warte, bis die junge Frau an mir vorbeigeeilt ist und sich gesetzt hat. Und nehme dann ihren Platz im Gang an ihrer statt ein. Sie setzt sich, lächelt und beginnt, genüsslich einen dicken Roman zu lesen. Ich stehe im Gang, lächele wahrscheinlich ein wenig bedröppelt vor mich hin, bin stolz auf wenigstens mein bisschen Mut und freue mich, dass ich nach so vielen Stunden, die ich heute bereits gesessen habe, nun auch einmal ein wenig zu stehen vermag. Doch die Situation ist noch nicht vorbei. Gelegentlich lächele ich sie an. Gelegentlich schaut sie zu mir. Nach vielleicht 20 weiteren Fahrtminuten geht ihr wohl irgendwie ein Licht auf, denn noch viel offenbarer kann eines nicht werden: dass ich sicher nicht aufgestanden bin, um auszusteigen – wir halten ja nicht einmal mehr. Irgendwann treffen ihre Augen die meinen und ihr Lächeln erstrahlt hell und weit. Mir zittern sofort die Knie und ich beginne, meinen Blick zu senken. Während ich dies tue, stolpert meine Angst über einen Fuß meiner Frechheit und denke ich mir: „Hallo, hallo, was soll das denn jetzt? Da schaut und lächelt sie Dich tatsächlich an und Du tust nichts anderes, als den Blick zu senken und zu Boden zu gucken wie ein begossener Pudel?“ Daher wandern meine Augen in der dritten Nanosekunde dieses Augenblickes wieder aufwärts. Erst senkten sie sich ob der Wärme ihres Blickes. Nun finden sie ihn wieder. Das ist ein wirklich schöner Moment: Zwei Menschen, in Zärtlichkeit verbunden; zwei Menschen mit offenem Visier. Dann zieht der Moment vorüber und ist vorbei. „Also, wenn Du jetzt nicht noch irgendwas Sinnvolles machst, hau ich Dir eine rein, mein Lieber, nicht nur der Angst“, raunt meine Frechheit mir ins Ohr. Und ich erkenne: Sie hat recht. Ich beschreibe ein kleines Stück Papier. Sinngemäß mit „Ich würde mich freuen, Dich einmal wiederzusehen“ und meiner Telefonnummer. Und bevor wir über den Rhein fahren, berühre ich sie an der Schulter, lächele und halte ihr meinen Zettel hin. Sie nimmt ihn, lächelt, sagt danke. Ich lächele und sage: „Einen schönen Abend noch.“ Dann ist der Traum vorbei und erwache ich im Nieselregen in Mainz.

Zwei

Ich sitze in der S-Bahn und höre Musik. Auch alle anderen sind beschäftigt. Jeder mit sich. Ich träume vor mich hin. Mein Fuß wippt zur Musik. Und ich erschrecke, als ich wahrnehme, dass alle anderen plötzlich synchron erschrocken sind. Das sind sie, weil eine Fahrkartenkontrolle durchgeführt wird. Und, zuck, sind alle plötzlich wieder im Hier und Jetzt. „Beam me down, Scotty“, haben ihre Seelen, die allesamt irgendwo waren, nur nicht hier, rasch nach Hause gefunkt. Und ich sehe die Menschen wie Blitze in ihre Körper zurückfahren: Zuck, zack und peng! Nun bin ich nicht mehr allein. Wir aber auch nicht, denn die Kontrolleure schreiten die Reihen entlang. Ich habe eine Karte. In meiner Reihe hat jeder eine. Und so zieht die Bedrohung vorbei. Ereilt jedoch einige Reihen weiter jemand anderen: Eine junge Frau. Sie ist vielleicht zwanzig. Gut gekleidet, gut frisiert, schick und schön. Jugendlich, frei und doch elegant. Sie hat keine Fahrkarte. Hat gerade ein Praktikum in Frankfurt begonnen. Es täte ihr leid. Sie spricht lange mit den Kontrolleuren, lässt sich die Regeln und Sanktionen erklären, fragt interessiert nach. Nie entgleist auch nur ein Muskel in ihrem Gesicht. Klug und selbstsicher wirkt sie, bis zum Schluss. Das ist der Moment, wo sie mit einem 50-Euro-Schein ihre Strafe abträgt, lächelt und sich bedankt. Nicht nur ob des Wechselgeldes. Auch für die Freundlichkeit der Obrigen und deren hilfreiche Information. Mir ist vollkommen unklar, wie man in so einer Situation derart souverän bleiben und die Contenance wahren kann. Doch sie vermag es. Lächelt, sieht gut aus und strahlt wie ein heller Mond in warmer Sommernacht. Die Kontrolleure steigen aus. Der Spuk ist vorbei. Rundum sehe ich es in den Gesichtern: „Beam me wieder up, Scotty!“, wird allerorten gefunkt. Und einer nach dem anderen verlässt wieder den Zug. Ich entscheide mich, noch zu bleiben. Zum einen muss ich gleich aussteigen. Zum anderen interessiert mich die junge Frau. Nachdenklich betrachte ich sie. Ich bedauere ihr Malheur, es tut mir regelrecht leid. Wäre es nach 19 Uhr gewesen, hätte ich behauptet, sie führe auf meiner Karte mit. Aber es ist erst gegen Sechs. Wenige Minuten später habe ich das Gefühl, nun sind wir allein: Sie und ich. Emotional anwesend. Jetzt, hier, im Zug. Die anderen sind wieder fort. Und da geschieht es: Ihr Gesicht rührt sich nicht, kein Muskel zuckt. Doch in ihr strahlendes und wirklich anziehendes Lächeln schleicht sich Salzwasser hinein. Über beide Wangen beginnen ihr die Tränen zu laufen. Und ich bin völlig perplex ob dieses Risses in ihrem Habitus. Und in meiner Realität. Vor allem aber bin ich berührt. Sie lächelt und weint. Und niemand bemerkt es. Außer mir. Da kommt das andere Wasser. Der Rhein. Ich muss gehen. Hinfort, raus. Ich laufe zur Tür. Und stehe nun nur noch einen halben Meter neben ihr. Behutsam wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelt dabei. Ein Finger links, ein anderer rechts. Ich muss irgendetwas tun! Irgendetwas muss ich doch tun können… „Ich würde Dich gern in den Arm nehmen“? Nein, das geht nicht. Auf gar keinen Fall. Selbst, wenn ich es ehrlich meine: Zwischen Männern und Frauen ist diese Frequenz meist von Ängsten gestört. In ca. 30 Sekunden wird der Zug halten. Was nun? Was nur, verdammt? Da zuckt es. Vom Herz bis ins Hirn. Meine Liebe schließt mit meiner Feigheit einen Kompromiss. Und meine Frechheit grinst sich eins. Nun weiß ich, was das Richtige ist. Rasch zücke ich mein Portemonnaie und entnehme ihm den Taschenkalender einer Drogeriemarktkette. Auf seiner einen Seite bildet er die Tage des Jahres ab. Auf der anderen steht ein Goethewort: „Die Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt.“ Neben diesem ist ein echtes, ein grünes und pflanzenes vierblättriges Kleeblatt aufgeklebt und laminiert. Ich reiche ihr den Kalender, lächele und sage: „Vielleicht hilft das beim nächsten Mal. Viel Glück.“ Dann ist der Traum vorbei. Zum Glück regnet es heute nicht.

Drei

Mein Lokalbahnhof in Mainz. Kurz nach acht. Ich stehe auf dem Bahnsteig und erwarte den Zug. Bin achtsam und schaue mich um. Da fällt es mir auf. Und selbst mir fällt es nur auf, weil mir jemand dabei hilft: Alle, wirklich alle Menschen um mich herum sind in grau, schwarz oder dunkelblau gekleidet. Ab und an mal einmal weinroter Schal oder ähnliches. Das dann aber nur sehr dezent und in Summe kaum wahrnehmbar. Was ich assoziiere, ist ein heimliches Heerestreffen kurz vor dem Aufbruch in die Schlacht. Und zwischen all diesen Menschen: Eine junge Frau mit regenbogenfarbener Mütze und regenbogenfarbenen Handschuhen. Dazu eine zweifarbige Jacke und ein Lächeln, gesäumt von einem müden Blick. Ich schaue links, ich schaue rechts, ich schaue erneut. Doch nein, weder bin ich betrunken noch bilde ich mir alles nur ein: 150 Leute oder mehr. Und alle auf diese sehr spezielle Art „uniformiert“. Keine Individualität mehr sichtbar, nirgends – nur bei ihr. Nun ziehe auch ich meine regenbogenfarbenen Handschuhe an. Ich mag sie nicht alleine lassen, hier im Feindesland: Denn wenn die Grauen irgendwann bemerken, dass sich eine Spionin hinter ihre Reihen geschlichen hat, könnte es übel werden. Also mache auch ich mich ein wenig bunt. Nun auch sichtbar. Und stelle plötzlich fest, wie die Sonne mir warm um die Nase streicht. Ich muss lächeln und freue mich, dass dieser Morgen beginnt, wie er es tut. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Und diesem tut er es auf jeden Fall. Ich steige in die S-Bahn. Und sitze alsbald gar nicht weit von ihr entfernt. Ich habe immer noch gute Laune und sehe selbst in der S-Bahn nur graublauschwarz und dazwischen sie. Ich muss lachen. Und da entscheide ich mich, dass meine Gefühle zum Leben und Ausleben da sind – und tue wieder etwas „schlicht aus dem Bauch“: Ich reiße ein Stück Papier aus meinem Bündel Sitzungsunterlagen und beschreibe es. Als ein Platz in ihrer Vierer-Zelle frei wird, ergattere ich ihn. Setze mich ihr gegenüber, während sie aus dem Fenster sieht. Berühre, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, eine hundertstel Sekunde lang ihr Knie. Lächele. Und reiche ihr mein zusammengefaltetes grünes Stück Papier. Über ihr Gesicht huschen Verwunderung, Irritation, Ärger und Angst. Dann nimmt sie den Zettel aus meiner Hand. Ich warte noch wenige Sekunden, dann stehe ich auf. Wenn ich jetzt bliebe, würden wir ins Gespräch kommen. Und dann müsste ich wieder erleben, wie Angst, Frechheit und Liebe in mir rängen. Vor allem aber würde ich in ein Dilemma geraten. Denn: Selbstverständlich würde ich mit ihr, die mich so berührt hat, auch gern einen Kaffee trinken gehen. Darum aber geht es hier nicht. Und soll es nicht gehen. Deshalb stehe ich behutsam auf, steige, die Bahn hat soeben gehalten, rasch aus und einen Wagen weiter wieder ein. Derweil wird sie wohl meinen Zettel lesen: „Du hast mir gerade den Tag verschönt. Auf dem Bahnsteig eben standen rund 150 Leute. Alle: grau, blau, schwarz. Nur Du: bunt. Schön. Und macht gute Laune. Ich danke Dir.“ Kein Name, keine Nummer, kein Wollen. Nur ich. Als Geschenk für jemand anderen. Während ich dieses Erleben in Gedanken notiere, genieße ich im neuen Wagen bereits wieder die Sonne sowie Musik in meinem Ohr. Gelegentlich hüpft mein Herz zu ihr im Takt. Es hat gute Laune, glaube ich. Denn: Die Welt ist bunt. Zumindest, wenn man genauer hinsieht…

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Zwei-Tage-Buch


Donnerstag

Heute Abend hatte ich so was Ähnliches wie Sex. Wobei „Kuscheln und dabei verdroschen werden“ eigentlich die bessere Umschreibung ist. Die Frau heißt Fon und ist, wenn ich richtig verstanden habe, 4 Jahre älter als ich. Sie ist klein und grazil, könnte mir aber wohl mit einem Handkantenschlag den Rücken brechen; und ich glaube, gelegentlich hat sie das auch schon versucht, nur eben noch un-bestimmt, ohne wirkliche (welch schönes Wort) Brech-Intention. Wir kennen uns etwa 2 Jahre und ich bin immer fix und fertig, nachdem wir uns gesehen haben. Seit Neuestem legt sie mich immer auf sich rauf, hebt mich dann mit ihren Knien hoch und wirbelt mich in der Luft rum. Ich bin sehr froh, dass meine Achterbahnunverträglichkeitsthematik erst ab ca. 3 Metern Höhe einsetzt, sonst würde das zu größeren Problemen führen. So macht’s nur ab und an knack irgendwo und bin ich etwas nervös und verschämt. Das bin ich auch, wenn dann bei einer anderen Sache mein Hinterkopf zwischen ihren Brüsten ruht. Ehrlich gesagt, beschämt mich das sogar sehr; aber als ich ihn, den Kopf, meine ich, heute entgegenkommenderweise abzuheben versuchte, fand sie das gar nicht gut. Ich glaube, sie mag mich. Ich glaube nicht, dass sie „sowas“ mit jedem macht. Das macht mich nervös. Ich weiß gar nicht, warum. Fon kommt aus Thailand. Da ist es so heiß, dass es keine Schokolade gibt. Ich habe ihr daher heute einen Schokoweihnachtsmann zum Abschied geschenkt. Das hat sie riesig gefreut. Nun überlege ich, ihr nächstes Jahr zu Weihnachten noch eine Tupperdose zu schenken. Dann kann sie den – oder vielleicht einen anderen – Weihnachtsmann mit nach Thailand nehmen. Dann gibt es da auch Schokolade. Man muss nur wissen, wie…! Nachdem ich bei Fon war, bin ich noch bei meinem Fastfooddealer eingekehrt. Der hat mir einfach grundlos einen Tee ausgegeben. Ich glaube, der mag mich auch. Puuh… Meine Mutter würde sagen: „Jens, die wollen alle nur Dein Bestes… (betretenes Schweigen; immer noch; ja, es iiist ein langes Schweigen, kann ich ja nix für)…: Dein Geld!“ Zum Glück habe ich nicht den Humor meiner Mutter geerbt. Sie hat nämlich keinen. Jetzt frage ich mich allerdings, wieso mein Schreibprogramm aus Tupperdose Tuberkulose macht. …der Schokoladenweihnachtsmann nach 3 Tagen Thailand? Oder der Tee beim Fastfooddealer, den er mir nur wegen seines schlechten Gewissens in Bezug auf… Igitt! Nein, das muss ich gar nicht wissen; und ich will auch nicht mehr alles verstehen. Verstehe das, wer will.

Freitag

Ich denke seit Tagen darüber nach, komme aber zu keinem rechten Schluss. Ein wenig beruhigt mich das Rilke-Wort, in dem es heißt, wenn man nur die Fragen liebte und nicht vergäße, lebte man eines fernen Tages, ohne dies zu merken, auch in ihre Antworten hinein. Doch helfen, wirklich helfen, tut mir dies nicht. Ich bin einsam und frage mich unter anderem, warum so viele Leute in meinem Alter so grau im Gesicht sind, so endlos „alt“ wirken auf mich. Damit meine ich nicht nur die Ministerialen, wie ich sie in Landtagsausschüssen und -sitzungen sooft traf, und die aussahen, als würden sie sich, selbst erst Mitte dreißig, um eine Rolle als Grauer Herr bei Momo bewerben – einem, der die Sechzig weit hinter sich hat. Damit meine ich auch die ganz normalen Leute, die ein „geregeltes“ Leben leben, die arbeiten gehen, hiernach essen und schließlich ruhen, um dann erneut arbeiten zu gehen, hiernach zu essen und schließlich zu ruhen. Warum fühle ich mich in ihrer Gegenwart oft so kindlich-gelangweilt und deplatziert? Warum macht es mich traurig, auf meine Frage, was sie im Leben noch erträumen, sooft zu hören: „Arbeiten und dann in Pension“, „In zwei Jahren das größere Auto“ oder „Arbeiten und irgendwann eine nette Frau kennenlernen“? Traurig jedenfalls macht es mich. Auf eine Art, die ihrerseits niemand versteht. Denn, um es mit Hans Schnier zu sagen: „Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, dass ein Clown melancholisch sein muss, um ein guter Clown zu sein, aber dass für ihn die Melancholie eine toternste Sache ist, darauf kommen sie nicht.“ Die Frage, die ich mir stelle, ist wohl jene von Erich Fried; sie lautet: „Was ist Leben?“. Meine Antwort hierauf fürs erste, für diesen Moment: Eben das, und oft nur das, was jenseits aller Zweckrationalität geschieht. Nur eben: Ist derlei Leben schon lang aus der Mode geraten. Und mit ihm so vieles, was dringend vonnöten wär – nicht nur für mich. Erich Fromm schreibt in „Die Kunst des Lebens“ dazu:
„Ich habe den Eindruck, dass in unserer Kultur nur noch wenig Zärtlichkeit zu finden ist. […] Ich behaupte nicht, dass wir nicht die Fähigkeit zur Zärtlichkeit besitzen, sondern nur, dass uns unsere Kultur den Mut zur Zärtlichkeit nimmt. Das liegt teilweise auch daran, dass unsere Kultur zweckorientiert ist. Alles hat seinen Zweck, alles zielt auf etwas Bestimmtes ab, das es zu erreichen gilt. Unser erster Impuls ist immer, etwas zu erreichen. Wir haben kaum noch ein Gefühl für den Lebensprozess selbst, ohne irgendetwas erreichen zu wollen, nur zu leben, nur zu essen oder zu trinken oder zu schlafen oder zu denken oder etwas zu fühlen oder zu sehen. Wenn das Leben keinen Zweck verfolgt, sind wir unsicher: Wozu ist es dann da? Auch die Zärtlichkeit verfolgt keinen Zweck. Sie hat nicht den psychologischen Zweck, Entspannung oder eine plötzliche Befriedigung zu bewirken wie die Sexualität. Die Zärtlichkeit hat keinen anderen Zweck, als sich an dem warmen, lustvollen, fürsorglichen Gefühl für einen anderen Menschen zu freuen. Deshalb scheuen wir die Zärtlichkeit.“
Zwar scheue ich sie nicht oder kaum, komme mir jedoch gelegentlich unbeholfen und eigenbrötlerisch mit ihr vor. Beispielsweise dann, wenn ich zuweilen den Ring, den ich am Daumen trage, oder eines der Fotos aus meinem Regal zärtlich streichele oder küsse, dabei diesem oder jenem gedenkend. Fast möchte ich mich schämen hierfür; tue es dann aber nicht.
Und wieder denke ich an Erich Fried. An das, was er in „Das Unmaß aller Dinge“ schreibt. Darin steht:
„Genau das ist der Grund, aus dem ich es immer schwerer finde, zu weinen aufzuhören. Nein, das stimmt gar nicht: Es ist nicht der Grund, aber es ist ein Grund, einer der Gründe. Wer glaubt, das Weinen eine Niederlage ist, der kann sich vielleicht nur nicht mehr daran erinnern, wie es ist, zu weinen aufzuhören, ehe es einem möglich ist, sich wirklich auszuweinen. Das ist die eigentliche Niederlage. […] Es wäre besser, nicht mehr aufhören zu müssen zu weinen. Es wäre ehrlicher und vielleicht auch weniger quälend. Sogar die Angst der andern, einen weinen zu sehen, ist nicht nur Mitleid, sondern auch Hilflosigkeit, Ratlosigkeit gegenüber jenem Rest von Freiheit, der sich da noch zeigt und störend wirkt, wie Freiheit heute schon fast immer.
Es gibt einen dummen und grimmig-lächerlichen Zustand, in dem die Intensität unseres Mitgefühls so viel von der Lebenskraft aufzehrt, daß wir nicht mehr imstande sind, für die, denen unser Mitgefühl gilt, etwas zu tun. Überhaupt scheint manchmal die in uns noch verbleibende Menschlichkeit unserer Lebenstüchtigkeit indirekt, also umgekehrt proportional zu sein. Dieses Verhältnis ist nicht unwichtig, wenn man das schließliche Gesamtergebnis annähernd zu erraten versuchen will.“
Ich glaube, er war auch ein Clown. Nur sehr viel älter und weiser als ich.

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Geschichten...

Augenblicke


„Ich bin ein Clown […] und sammle Augenblicke.“
Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns

Ich sage ihr, der Ort, an dem wir uns befinden, sei mir suspekt. Sie erwidert, ja, der Ort sei wirklich … unwahrscheinlich. Es gäbe ihrer Meinung nach hier kaum normale Menschen und sei zudem organisiert wie ein Basar für Wohnungssuchende: „Geduldiger Türklinkensaubermacher, Räumelüfter und Teppichsauger sucht gemütliche Wohnfläche mit Parkett, Fenster im Bad und Garten. Lieber Wohnungssucher, es interessieren sich eine Villa und zwei Bruchbuden für Sie!“ Umso froher sei sie, endlich doch noch einem Clown begegnet zu sein.

Sie schreibt, sie schriebe jetzt noch jedem ihrer Schüler einen Weihnachtsgruß auf die Arbeit. Ich frage zurück, welche Art Lehrerin sie denn sei, dass sie Schüler unterrichte, die erwerbstätig seien. Und was die Schüler so arbeiteten, wie alt sie wären. Einige Zeit später, ich spaziere gerade durch die Stadt, muss ich lachen; und viele Kilometer entfernt lacht sie, etwa zugleich, wohl mit mir mit – ob unseres morgendlich-clownesken „Auf-die-Arbeit-schreiben“-Missverstehens.

Ich schreibe, ich ginge jetzt mit Böll spazieren und widmete mich dann den Ansichten eines Clowns in meinem Lieblingscafé. Sie erwidert, Böll sei ein schöner Name und sicher sehr sympathisch; fragt, welche meiner Ansichten es denn seien, mit denen ich an einem Samstag im Café schwanger ginge. Am Abend lachen wir gemeinsam ob unserer auch diesmorgendlichen „Syntaxdiffusion“; nachts träume ich dann von helltönendem Schäferhundgeböll und, wer weiß, liest sie vielleicht von Hans Schnier.

Ich erzähle ihm, dass ich jemanden verloren habe, der mir viel bedeutet hat. Berichte, wie ich Wut, Trauer und Ohnmacht durchlitt, als ich erfuhr, dass sie alsbald einen anderen heiraten wird; etwas, von dem ich nicht nur um meinet-, sondern vor allem ihretwillen der Meinung bin, dass es ein großer Fehler sein wird. Berichte, wie ich ihr dies noch sagte, bevor ich ging; und ihr abschließend bedeutete, wie sehr ich doch hoffte, ich irrte mich – weil ich ihr von Herzen wünschte und wünsche, dass sie glücklich wird. Er schaut mich an und fragt: „Wissen Sie, was das ist, mein Herr?“ Ich erwidere: „Was was ist? Ich verstehe nicht.“ Und er antwortet: „Das ist Liebe, junger Mann: Einen geschätzten Menschen ziehen lassen und ihm aufrichtig wünschen, dass er mit einem anderen glücklich wird.“ Meine Träne verwischt die Schminke in meinem Gesicht.

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