Geschichten...

Nach-Weihnachtsmärchen

4. Januar 2016:

Im ICE von Berlin nach Mainz. Rückreise vom Weihnachtsurlaub. In Halle steigt ein gebrochen Deutsch sprechender junger Mann ein. Ziemlich am Ende. Ohne Fahrkarte. Muss wichtige Papiere in Frankfurt holen. Schnell entbrennt eine hitzige Debatte. Zuerst mit der DB-Kontrolleurin: „Wenn Sie kein Geld haben, müssen Sie raus! Das ist doch eine Frechheit. Oder denken Sie, wir kommen in ihr Land und steigen da einfach in den Zug und fahren mit?“ Danach die ältere Dame neben mir: „Ja, ja, das ist wirklich schlimm!“ „Was meinen Sie?“ „Na, dass die jetzt überall sind und sich nicht an die Regeln halten. Schlimm!“ Ich: „Ach, wissen Sie, wenn fremde Mächte mein Land seit Jahren bombardieren würde, würde ich auch abhauen. Und wenns ums Leben und Überleben ginge, würde ich auch einen scheiß auf Regeln geben, sondern einfach den Zug nehmen, der mich weiterbringt.“ Dann bin ich hin und habe ihm gesagt, dass er wegen Betrug oder Eigentumsdelikten in Germanien schnell in den Knast wandern kann und sich das nächste Mal lieber auf dem Klo verstecken soll. Und dann habe ich hörbar im Abteil gegen das allgemeine Gejammere gesagt, dass Jammern nichts helfe und Mitgefühl besser durch Handeln denn durch Larmoyanz zu leben sei. Und dann habe ich ihm „zu Weihnachten“ ein Ticket gekauft. Und, siehe da: Jeder hängt in seinen Regeln, in seinem ganz eigenen Film. Aber wenn einer anfängt, bewegen sich auch die anderen. Vormachen! Mut machen! Das ist so wichtig in dieser Zeit. Jedenfalls: Die DB-Frau hat mir dann statt 100 nur 50 Euro abgenommen. „Sie haben doch eine Bahncard, oder?“ „Ja.“ „Gut, dann machen wir das über die. Aber verraten Sie uns nicht!“ Wunderbar! Manchmal muss der „Mut zur Empathie“ erst ermutigt und herausgekitzelt werden aus der deutschen Untertanenmentalität. Aber in der Subversion fühlen sich in aller Regel doch viel mehr Leute wohl als man annehmen mag. Dabei gehören wir alle genau dort gerade hin: In die solidarische Subversion gegen dieses System, das täglich mordet und über Leichen geht. Prost Neujahr euch! Die Großmutter neben mir hat mir grad ein Hustenbonbon geschenkt. Das ist vielleicht der „Extremismus“ im Denken und Handeln, zu dem eben sie fähig ist: Dem Dissidenten, der den Störern hilft, Naschi geben. Ist doch schon was! Anfangen, vorleben, auch ihr. In der Praxis und nicht in linker Theorie. Klingt wenig, ist aber sehr viel… – Nachtrag 10 Minuten später: Jetzt hat mit der Familienvater neben mir grad 25 Euro in die Hand gedrückt. „Entschuldige, ich würde mich gern an der Fahrkarte beteiligen. Bei minus 15 Grad draußen. Hast Du gut gemacht!“ „Ach, Du bist ja süß. Vielen Dank, sehr gern.“

5. Januar 2016:

Nachtrag zu gestern und offtopic diesmal: Da habe ich mit meiner kleinen Erzählung ja gut was losgetreten. Reichweite von 30.000 Klicks auf den Bericht. Was ich mich frage: Mensch, wie hältst Dus mit der emotionalen Betroffenheit? Wie entscheidest Du eigentlich, was wann jeweils richtig ist – und was falsch? Konkret: Ich habe nirgends geschrieben, dass die Person, der geholfen wurde, ein Flüchtling war. Das war zwar naheliegend, aber alles andere als klar. Es kann genauso gut auch ein drogenschmuggelnder Amer respektive Obdachloser gewesen sein. Ganz real, ohne Spaß. Ich habe nicht gefragt. Es war mir egal. Wäre es „in diesem Falle“ dann falsch gewesen, zu helfen? Wären 30.000 Klicker dann auch so gerührt? Das „Mem“ Flüchtlinge scheint ja grad ungeahnte Solidarität auszulösen. Bei einigen jedenfalls. Aber tuen dies die Meme „arm“, „hungernd“, „asozial“, „drogensüchtig“ auch? Und warum eigentlich nicht? Eine schöne Wöche euch allen.

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Ein Gedanke zu “Nach-Weihnachtsmärchen

  1. Stephan-Michael Patzke schreibt:

    Manchmal geht es so einfach: am 23.12. habe ich einem Obdachlosen-Zeitungsverkäufer einfach einen – hier nicht näher zu nennenden – Geldschein in die Hand gedrückt und friedliche Weihnachten gewünscht. Nichts besonders, ganz spontan, und, ja, „bescheuert“, vielleicht „spießig“: Es tat mir nicht weh, und ich habe mich wohler gefühlt als mit fast jedem der Geschenke, die ich in den Wochen vorher gekauft habe. Fünf Minuten später war er weg mit seinen Zeitungen. Und es war mir egal, ob er nur keine Lust mehr hatte oder sich eine Flasche zum Aufwärmen gekauft hat oder … oder …
    Tut es auch – einfach so. Das „gute Gefühl“ kommt garantiert…

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