Während die sozialen Disparitäten in der Gesellschaft zunehmen, die Armen ärmer und die Reichen immer reicher werden, vermelden die Bildungseinrichtungen immer mehr Kinder und Jugendliche mit so genannten Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen und Erkrankungen. Die Rede ist von Dyskalkulie, Dyslexie, Legasthenie, ADHS, Eskapismus, Gewaltneigung, Hoch- oder Minderbegabung und anderem. Der Sozial-Eugeniker Thilo Sarrazin schwadronierte unlängst sogar von genetisch vererbbarer Dummheit, die die „Bildungsfernen“ zur gesellschaftlichen Last und Fördermaßnahmen sinnlos mache.
Inzwischen leidet, wer verträumt ist, an Cognitive Tempo Disorder (CTD). Und starke Gefühlsäußerungen gelten amerikanischen Psychologen als Disruption Mood Dysregulation Disorder (DMDD), wie Dr. Bernd Hontschik in der Frankfurter Rundschau vom 17. Mai 2013 zu berichten weiß. Die Trauer über den Tod eines nahen Menschen gilt im neuen Handbuch „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ schon als Krankheit, wenn sie länger als 14 Tage währt. Auf Grund solcher und anderer Diagnosen werden Jahr für Jahr mehr Psychopharmaka verschrieben.
Und wir? Sind wir nicht inzwischen mitten drin und Teil dieser „pathologischen Wende“ – auch und gerade in Pädagogik, Schule und Bildungssystem? Aber wollen wir es einfach dabei belassen? Beobachtbares Problem. Diagnose. Zuschreibung eines Defizits bis in den Kern unseres Menschseins hinein. Individuelle Medikation und Therapie. Fertig. Das war‘s?
Wenn Leben aber Wachsen durch Umwelteinflüsse und Reagieren auf diese ist, ist dann Menschliches nicht stets kontextabhängig und -provoziert? Der Philosoph Martin Buber verlieh solchem Denken wunderbar Form: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Und Georg Feuser, professorales Urgestein heilpädagogischer Lehre und Forschung, ergänzte: „Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind.“ Dieses „Du“ meint dabei nicht nur Pädagoginnen und Pädagogen, Mitschülerinnen und Mitschüler, Mütter und Väter, sondern die gesamte Gesellschaft. Ist diese, so lautet dann die Frage, überhaupt kinder-, lebens- und entwicklungsfreundlich? Ermutigt sie zu Spiel, Freude, Kreativität und Eigensinn? Verfügen Kinder in ihr über die Zuneigung, Wertschätzung und sichere Bindungen, die sie für ideales Wachstum benötigen? Und wenn nicht, ist die Zahl von Kindern und Jugendlichen „mit Problemen“ dann nicht womöglich ein Indikator für die gesellschaftlichen und individuellen Folgen von Stress, Konkurrenz, Leistungsdruck, Arbeitsentgrenzung, Abstiegsängsten und vielem mehr? Ein Indikator für die zunehmende Beziehungslosig- und Sinnunfähigkeit unserer Zeit, an der auch viele Erwachsene leiden?
In diesem Sinne ist die vorliegende HLZ zugleich Ermutigung wie Provokation. Provokation, weil die Autorinnen und Autoren die üblichen Erklärungsansätze kritisch hinterfragen und die These wagen, dass es Rechenschwäche, Rechtschreibschwäche, ADHS, Hochbegabung, Bildungsferne, Gewaltbereitschaft, geistige Behinderung sowie soziale Differenzen erklärende genetische Unterschiede zwischen Menschengruppen gar nicht gibt, sondern solche Konstrukte nur von grundlegenderen Fragen ablenken. Und Ermutigung, weil wir gemeinsam sehr wohl herausfinden können, was ein freudvolleres, lebenswerteres Leben ausmachen kann, das mehr auf Kooperation denn auf Konkurrenz ausgerichtet ist, mehr auf Ermutigung denn auf normierende Erziehung und mehr auf Neugier denn auf Leistungssteigerung. Das Titelthema befasst sich daher auch mit der Frage, wie wir eigentlich leben wollen und wer wir eigentlich sind. Oder, um es mit Oliver Tolmein zu sagen: Wann ist der Mensch ein Mensch?
Jens Wernicke
Aus dem Inhalt:
Prof. Georg Feuser: Geistigbehinderte gibt es nicht
Prof. Erika Brinkmann und Prof. Hans Brügelmann: Legasthenie gibt es nicht
Prof. Wolfram Meyerhöfer: Rechenschwäche gibt es nicht
Prof. Dieter Mattner: ADHS gibt es nicht
Prof. Gerald Hüther: Hochbegabte gibt es nicht
Andreas Kemper: Bildungsferne gibt es nicht
Prof. Freerk Huisken: Gewaltbereitschaft gibt es nicht
Doris Liebscher und Tino Plümecke: Menschenrassen gibt es nicht
Weiterlesen: http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/HLZ–12-2013–web.pdf
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