1.
„Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur vom Anfang bis zum Ende gut verwendet würde; aber wenn es sich in üppigem Schlendrian verflüchtigt, wenn es keinem edlen Streben geweiht wird, dann merken wir erst unter dem Drucke der letzten Not, dass es vorüber ist, ohne dass wir auf sein Vorwärtsrücken achtgegeben haben. So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch. […]
Frage nach jenen Stützen der Gesellschaft, deren Namen auswendig gelernt werden, du wirst sehen, man unterscheidet sie nach folgenden Merkmalen: der eine dient diesem, der andere jenem, keiner sich selbst. Ganz sinnlos ist demnach die Entrüstung so mancher: sie klagen über den Hochmut der Höherstehenden, weil diese für den zudringlichen Besucher keine Zeit gehabt haben! Darf sich irgend jemand herausnehmen, über den Stolz eines anderen zu klagen, der für sich selbst niemals Zeit hat? Jener hat dir unbedeutendem Gesellen doch irgend einmal einen Blick gegönnt, wenn auch einen noch so hochfahrenden, er hat sein Ohr zu deinem Anliegen herabgelassen; du aber hast dich nie für wert gehalten, einen Blick in dich zu tun, auf dich selbst zu hören. Diese deine Dienstbeflissenheit gibt dir also keinen Anspruch auf Beachtung von seiten irgend jemandes; denn als du sie ausübtest, lag dem nicht die Absicht einer Verbindung mit dem anderen zu Grunde, sondern nur das Unvermögen, dir selbst anzugehören. […]
Es überstürzt ein jeder sein Leben, leidet an Sehnsucht nach der Zukunft und an Überdruss an der Gegenwart. Aber der, welcher keinen Augenblick vorübergehen lässt, ohne ihn zu seinem Heil zu verwenden, der jeden Tag so nützlich verwendet, als ob es der letzte wäre, erwartet den morgigen Tag weder mit Verlangen noch mit Furcht. Denn was für einen neuen Genuss könnte ihm denn irgend eine Stunde bringen? Alles ist ihm bekannt, alles gründlich durchgekostet. Was das übrige anlangt, so mag das Schicksal nach Belieben darüber entscheiden: sein Leben ist bereits in Sicherheit. Ein Zuwachs ist noch möglich, ein Abzug nicht, und mit dem Zuwachs steht es ähnlich wie bei einem bereits Gesättigten und Befriedigten, der noch einige Bissen dazu nimmt, nach denen er nicht verlangt, die er sich aber gefallen lässt. Die grauen Haare und die Runzeln geben dir also keinen hinlänglichen Grund zu glauben, es habe irgend einer lange gelebt: nicht lange gelebt hat er, er ist nur lange dagewesen.“
Seneca: Von der Kürze des Lebens, S. 5 ff.
2.
„Waren Sie auch schon mal in Versuchung? Aber ein wenig Zuneigung für sich selbst zu empfinden – ist das schlimm? Trösten Sie sich, das ist eine offene Frage, seit es die abendländische Geschichte gibt. Die ‚Selbstliebe‘ ist umstritten von Anfang an: Sie sei das größte Übel, meinte schon Platon, denn sie halte die Menschen davon ab, gut und gerecht zu sein.
Sich selbst nicht zu lieben, könnte allerdings ein noch größeres Übel sein, denn es verhindert, andere lieben zu können: Das wandte in antiker Zeit jedenfalls Aristoteles gegen seinen Lehrer Platon ein, denn Selbstliebe ist in seinen Augen die Voraussetzung für die Zuwendung zu anderen. Wer zu sich selbst kein Verhältnis hat, kann auch zu anderen keines gewinnen. Das leuchtet durchaus ein, denn wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, der ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich anderen zuwenden könnte.
Aus diesem Grund gibt es auch im Christentum, der Religion der Liebe, diesen Satz, den alle kennen und den doch kaum einer ernst nimmt: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘ Wie dich selbst: Selbstliebe ist die Grundlage der Nächstenliebe. Das ist theologisch nicht immer so erklärt worden, viele Jahrhunderte wurde vielmehr der Verzicht auf Selbstliebe gepredigt. Heute aber lässt sich eingestehen, dass dies keinesfalls nur reine Nächstenliebe zur Folge hatte. Sie und ich, wir können es an uns selbst studieren: Vergeblich versuchen wir, andere zu lieben, wenn die Selbstliebe nicht die Kräfte dafür zur Verfügung stellt, die verausgabt und verschwendet werden können.
Wie kann nun aber die Selbstliebe von Selbstsucht unterschieden werden? Ein einfaches Merkmal nannte schon Aristoteles: Wenn die Selbstliebe nur um ihrer selbst willen da ist, dann handelt es sich um bloßen Egoismus. Ist sie dagegen dazu da, die Zuwendung zu anderen zu ermöglichen, so kann sie keine Selbstsucht sein. Ganz selbstlos sind wir in keinem Fall: Jede Zuwendung zu anderen kommt ja doch wieder uns selbst zugute. Innerlich reich werden wir im Leben letztlich nicht durch uns selbst, sondern durch andere. Die Zuwendung zu anderen ist daher die wahre Selbsterfüllung. So gesehen ist die Frage nicht mehr, ob man sich selbst lieben darf. Es gibt vielmehr Gründe dafür, guten Gewissens darauf gar nicht verzichten zu können.“
Wilhelm Schmid: Darf man sich selbst lieben?,
in: Rainer Weiss (Hrsg.): Die Kunst zu leben: Anleitungen zum Glücklichsein, S. 37 f.
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