Fremdes...

Liebe ist Selbstfindung


Dich

Dich
dich sein lassen
ganz dich

Sehen
daß du nur du bist
wenn du alles bist
was du bist
das Zarte
und das Wilde
das was sich losreißen
und das was sich anschmiegen will

Wer nur die Hälfte liebt
der liebt dich nicht halb
sondern gar nicht
der will dich zurechtschneiden
amputieren
verstümmeln

Dich dich sein lassen
ob das schwer oder leicht ist?
Es kommt nicht darauf an mit wieviel
Vorbedacht und Verstand
sondern mit wieviel Liebe und mit wieviel
offener Sehnsucht nach allem –
nach allem
was du ist

Nach der Wärme
und nach der Kälte
nach der Güte
und nach dem Starrsinn
nach deinem Willen
und Unwillen

nach jeder deiner Gebärden
nach deiner Ungebärdigkeit
Unstetigkeit
Stetigkeit

Dann
ist dieses
dich dich sein lassen
vielleicht
gar nicht so schwer

(Erich Fried)

Ich habe gesagt, dass in der Meditation und Kontemplation Liebe entsteht. Diese Liebe fragt nicht nach Erwiderung, sondern sie strömt aus mir heraus und schlägt sich auf die Umwelt nieder. In diesem Zustand der Liebesfähigkeit bin ich bereit zu lieben, ohne nach Resonanz zu fragen. Dies ist bei der Liebe zur Natur jedem leicht verständlich.

Bei der Liebe zu einem Menschen des anderen [oder gleichen] Geschlechts werden die Verhältnisse etwas komplizierter, denn hier erwarten wir Resonanz, nämlich die Erwiderung unserer Liebe. Wir spiegeln uns in dem erwählten Liebesobjekt und fragen: „Liebst Du mich genauso wie ich Dich?“ Das Modell für diese Liebe zum Menschen liegt in der Kindheit und in der Abhängigkeit von den Eltern (primär von der Mutter). Das Baby ist abhängig von der Mutterliebe, es ist auf Resonanz angewiesen, und es spürt genau, ob es geliebt wird oder nicht. Seine Existenz und seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung hängen davon ab. Die Mutter ist ein Spiegel, in den das Kind sensitiv hineinschaut mit der Frage: „Wenn ich das und das tue, werde ich dann von Dir geliebt?“ Geliebt zu werden ist für das Kind existenznotwendig, denn ohne Liebe drohen Strafe und Angst. Kurz gesagt, das Kind sucht seine Selbstfindung in der Liebesbestätigung durch seine Eltern, es entwickelt die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Eltern mögen, und unterdrückt in sich das, was die Eltern nicht mögen. Es liebt seine Eltern, weil es keine andere Wahl hat, es strebt danach, wiedergeliebt zu werden. Die Entwicklung seines Selbst wird von den Erziehungspersonen gesteuert, es lässt sich manipulieren und manipuliert sich selbst, um geliebt zu werden.

Die Liebe zur Natur ist dagegen viel unproblematischer, denn der Baum, den ich meditativ liebe, verlangt von mir nichts, er akzeptiert mich so, wie ich bin, und ich akzeptiere ihn, wie er ist. In der Kindheit ist die Liebe eng verknüpft mit der Selbstentfaltung und Selbstwertschätzung. Wir erfahren, dass Menschen etwas von uns verlangen, während ein Baum oder ein Vogel in der Luft nichts von uns fordert. Einen Vogel können wir lieben, ohne davon abhängig zu sein, dass wir von ihm wiedergeliebt werden.

Die Liebe zu Menschen ist problematisch, weil Menschen etwas von uns fordern, auch später, wenn es nicht mehr um die Liebe der Mutter geht, sondern um die Liebe eines Partners. Von einem Partner erwarten wir, dass wir unser Selbst in ihm spiegeln können, er gibt uns Resonanz, ob er uns mag oder nicht. Er sagt uns beispielsweise: „Deine Strebsamkeit, Deinen Charme, Deine Initiative mag ich, Deine Leichtsinnigkeit, Deine leichte Gefühlsansprechbarkeit jedoch nicht.“ Ein Mensch ist für uns ein Spiegel, in dem wir uns betrachten können, und wir sind begeistert, wenn wir Zustimmung erfahren, wenn man uns lobt, wenn man uns sagt, so oder so seien wir richtig und liebenswert.

Das Liebesobjekt hat also einen großen Einfluss auf die innere Selbstfindung und Selbsterfahrung. Wir fühlen uns von dem anderen definiert und wollen von ihm wissen, wie wir sind, wie er uns empfindet, was er von uns denkt. Wir wollen wiedergeliebt werden wie als Kind von der Mutter, jetzt von dem Partner, und wir richten unser Verhalten nach den Erwartungen und Vorstellungen, die wir in dem Resonanzspiegel erfahren. Wir finden uns selbst im anderen, in seiner Diagnose, und wir arbeiten an unserem Selbst nach diesen Erfahrungen wie als Kind. So kommen wir aus der Manipulation unseres Selbst niemals heraus. Von Mutter und Vater waren wir existentiell abhängig, weil wir Schutz und Geborgenheit suchten, von dem Partner des anderen [oder gleichen] Geschlechts sind wir abhängig, weil wir Sex, Schutz, Geborgenheit und Anerkennung unseres Selbst suchen. Die Manipulation nimmt kein Ende, und wir sind als Erwachsene nicht freier als ein Kind, obwohl wir hofften, es würde „später“ alles viel besser, wir könnten freier, autonomer und offener leben. Es erweist sich, dass die eine Manipulation durch eine andere abgelöst wird, dass wir von einer Unfreiheit in die andere geraten. Ist das Selbstfindung? Haben wir unser Selbst gefunden, wenn ein anderer sagt, wer wir sind?

Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage jedem leicht fällt. Solange wir uns in anderen spiegeln und uns im Spiegelbild der anderen selbst finden wollen, sind wir genasführt. Wirkliche Selbstfindung ist etwas anderes, sie ist Findung des eigenen Selbst, ohne andere zu fragen, was sie davon halten, wie sie mein Selbst bewerten. Es ist schwer, diese Autonomie zu finden, es ist so gut wie unmöglich in einer Gesellschaft, die vom Babyalter an den Menschen manipuliert. Wir bleiben Manipulierte bis zum Grab, wenn wir diesen Prozess nicht durchschauen und Schluss damit machen.

Wir dürfen also nicht mehr andere fragen: Wer bin ich? Wir müssen uns selbst fragen, niemanden sonst, denn wer und was wir sind, liegt in uns selbst, kein anderer, keine Mutter, kein Vater, kein Lehrer, kein Liebespartner, kann uns eine Antwort darauf geben.

Wenn wir das erkannt haben und auch danach leben, dann verändert sich die Liebe. Wir lernen die Menschen zu lieben, ohne zu fragen: „Werde ich wiedergeliebt? Was liebst Du von mir und was nicht? Was kann ich tun, dass Du mich mehr liebst, und was muss ich unterlassen?“ Wir fragen nicht mehr, weil wir diese Fragen lächerlich und entwürdigend finden. Wir finden uns nicht mehr im anderen wieder, sondern wir finden uns nur in uns selbst.

In dieser praktischen Erkenntnis zeigt sich wirkliche Autonomie. Die Fähigkeit, einen anderen zu lieben, ohne danach zu fragen, ob man wiedergeliebt wird, ist die reife Liebe des autonomen Menschen, der keinen anderen manipuliert und auch selbst nicht manipuliert werden kann und will. Die reife Liebe ist auf das eigene Sein gegründet, sie ist nicht unsicher und fragt nicht nach Resonanz, sie ist unerschütterlich auf mein Selbst begründet, auf mein eigenes Sein. Liebe zu einem Menschen ist dann meditativ und kontemplativ wie zu einem Baum auf der Wiese und wie zu einem Vogel in der Luft, sie respektiert das andere Sein und fordert nichts.

Reife Liebe als Prozess und Zustand ist Selbstfindung. Wer liebt, erfährt sich selbst in der Liebe, diese Erfahrung ist Zuwendung und Meditation in einem.

Peter Lauster: Die Liebe. Psychologie eines Phänomens, S. 72ff.

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Ein Gedanke zu “Liebe ist Selbstfindung

  1. Katharina von Fircks schreibt:

    Finde ich gut,glaube,dass es auch etwas damit zu tun hat,dass wir aus unserer geistigen Wirklichkeit „herausgefallen“ sind …die Meditation gibt uns die Möglichkeit sich dieser Wirklichkeit zu öffnen,so dass sich etwas offenbaren kann…..von dort werden wir immer geliebt,sind in der Liebe,sind Liebe

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